Der Film »Nanuk, der Eskimo« und die viel zitierten »blauen Reiter der Wüste« prägen die vielfach romantisierte und stereotype europäische Wahrnehmung der Inuit und der Tuareg. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Leben im Zirkumpolarraum und in der Sahara jedoch drastisch verändert. Postkoloniale Abhängigkeiten, geopolitische Veränderungen, Interessen an den Ressourcen dieser Regionen und das sich wandelnde Klima spielen für die dort lebenden Menschen eine entscheidende Rolle. Die Betrachtung der Inuit und der Tuareg steht hier exemplarisch für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Kulturen, die in den Wüsten und Polargebieten der Erde seit Jahrtausenden heimisch sind und sich mit traditionellen und modernen Wirtschaftsformen ihren Weg in die Zukunft suchen.
Eine Gemeinsamkeit, die sich Inuit und Tuareg teilen, ist die Komplexität ihrer Bezeichnung. Inuit bedeutet »beseelte Menschen« (Singular: Inuk) und wird lokal mit regionalen Abwandlungen – etwa Inupiat oder Inuvialuit – verwendet. Eskimo ist kein Synonym für Inuit; damit wird die übergeordnete Sprachfamilie bezeichnet, die auch entfernte arktische Sprachgruppen wie die Jupik und die Aleuten umfasst. Inuit nennen sich jene indigenen Arktisbewohner, die im nördlichen Alaska, im zentralen arktischen Kanada und in Grönland leben. Zusätzlich ist es ein politischer Begriff, der vom Inuit Circumpolar Council (ICC) eingeführt wurde, um alle Inuit- und Jupikgruppen in Grönland, Kanada, Alaska und Russland zu vertreten (ungefähr 150 000 Menschen). Charakteristisch für die rund 118 000 Inuit ist, dass sie die Nachfahren der Thule-Kultur sind, die sich in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends von der Beringstraße bis Ostgrönland ausgebreitet hat. Die Sprache der Inuit (Inuktitut, Inupiaq, Inuinnaqtun) ist sehr homogen, ihr Lebensraum erstreckt sich nördlich der Baumgrenze, und sie lebten bis ins beginnende 20. Jahrhundert nomadisch. Der Begriff Tuareg (Singular weiblich: Targia, Singular männlich: Targi) bedeutet nicht wie in der arabischen Volksetymologie verbreitet »von Gott verlassen«, sondern bezieht sich auf eine Regionsbezeichnung im Fezzan (Süd-Libyen) und bezeichnete ursprünglich »eine Person aus Targa«. Der Terminus wurde arabisiert, durch die französische Kolonialzeit verbreitet und ist eine Fremdbezeichnung, die von den Bewohnern der Sahara nicht oder nur in bestimmten Zusammenhängen (Tourismus) verwendet wird. Sie selbst nennen sich je nach Region Imuhar, Imajeren oder Imushar. Die Sprache (Tamasheq, Tamahaq) der rund 1,5 bis zwei Millionen Sprecher ist eine Varietät des Berberischen, mit lokalen dialektalen Unterschieden. Typisch für die primär nomadischen Tuareg ist die Verschleierung der Männer, die aufgrund eines komplexen Ehren- und Verhaltenskodex entstanden ist. Damit werden Anstand, Zurückhaltung und Respekt ausgedrückt.
Während die Inuit auf drei Kontinente und vier Länder verteilt sind, ist ihre Einbindung in die Nationalstaaten relativ gut gelungen. Im Norden Kanadas konnten sie 1999 einen Teil der Northwest Territories als autonome Region Nunavut mit der Hauptstadt Iqaluit für sich beanspruchen. Zwar haben sie politisch weniger Einfluss als die südlichen Provinzen, aber die Inuit stellen in Nunavut immerhin die Mehrheit und können indigene Rechte verhandeln. Grönland besitzt gegenüber Dänemark ein Selbstbestimmungsgesetz, das den Einwohnern verstärkte Autonomie ermöglicht, aufgrund deren sie unter anderem die Uranexploration selbst regeln können. Die Tuareg leben seit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten auf die Länder Libyen, Algerien, Niger, Mali und Burkina Faso verteilt, wo sie durch nationalstaatliche Sozialisation unterschiedlich geprägt wurden. Verschiedene Verkehrssprachen (Arabisch, Haussa, Französisch), unterschiedliche Schulsysteme, rivalisierende Ökonomien und konträre politische Ideologien verstärkten ihre Heterogenität. Daher haben sich die Tuareg-Rebellionen in Mali (1961–64, 1990–95, 2011) und Niger (1990–95, 2007–09) nie zu einer einheitlichen Bewegung zusammenfinden können. Die Tuareg von Mali riefen zwar 2012 die Autonomie der Region Azawad aus, diese wurde aber von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt.
Ein Vergleich der traditionellen Ökonomien von Tuareg und Inuit ist schwierig, da es sich um zwei grundverschiedene Arten des Wirtschaftens handelt. Zum einen sind die Naturgegebenheiten, mit denen Tuareg und Inuit konfrontiert sind, zu divers. Daher erlangten sie mit ganz unterschiedlichen Strategien Subsistenz: Jagd der Inuit versus Hirtenwirtschaft der Tuareg. Zum anderen wurden die Inuit bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sesshaft und vielfach zwangsangesiedelt, während ein Teil der Tuareg, vor allem in Mali und Niger, nach wie vor nomadisch lebt. Nachdem es in der Arktis in den Sommermonaten maximal plus zehn Grad warm wird, die Tundra fast durchgehend zugefroren ist und die Vegetation nicht ausreicht, um dem Menschen Nahrung zu liefern, leben die Inuit küstenorientiert und ernähren sich hauptsächlich von der Jagd auf Meeressäuger. Die durch die Thule-Kultur eingeführte Harpune erwies sich dafür als äußerst effektiv. Robben, Walrosse und Wale sind aufgrund ihres Fleisches und ihrer Haut (hoher Vitamin-C-Gehalt) besonders wichtig und stellen vor allem rund um die Beringstraße die Grundnahrungsmittel dar. Einzig Killerwale unterstehen in der westlichen Arktis einem Jagdtabu, da man sie als Helfer und Freund der Menschen betrachtet und glaubt, dass sie sich auch in Wölfe verwandeln können. Fischfang in Flüssen und Seen ist für die Inuit von untergeordneter Bedeutung, da die Lachse die geografische Breite der Baumgrenze in der Regel nicht überschreiten. Durch den Klimawandel und den zunehmenden Temperaturanstieg der Meere werden sich die Lebensbedingungen für Fische und Meeressäuger jedoch in naher Zeit gravierend ändern, und damit auch für die im Zirkumpolarraum lebenden Menschen.
Die Sahara ist grundsätzlich eine lebensfeindliche Region: vegetationslos, im Sommer bis zu 50 Grad heiß, im Winter kann das Thermometer unter null Grad anzeigen. Kein Nomade geht freiwillig in die Wüste, die als Inbegriff von Leere und Einsamkeit und als Sitz der Geister (Kel Esuf) angesehen wird. Doch dort, wo sich Wasser findet, vor allem rund um die Gebirgsmassive Ahaggar, Ahnet, Azjer, Aïr und Ifoghas, haben die Tuareg mittels Ziegen- und Dromedarzucht erfolgreich Subsistenzwirtschaft betrieben. Doch seit in der Sahara Zeiten extremer Dürre und starker Regenfälle zunehmen, ist die Viehzucht stark bedroht. Darunter leidet die Versorgung der Tuareg, da Milch als Grundnahrungsmittel gilt. Für spezielle Gruppen war der inner- und trans-saharische Karawanenhandel von Bedeutung, bei dem unter anderem Salz und Datteln aus der Sahara gegen Hirse aus den südlichen Haussa-Regionen getauscht wurden. In einigen Regionen hat sich das wirtschaftliche Repertoire um Gartenkulturen (Obst und Gemüse) erweitert.
Bei den Inuit wie auch bei den Tuareg gibt es klare Vorstellungen von Arbeitsteilung nach Gender-Aspekten. Männer der Inuit waren für das Jagen der Meeres- und Landsäugetiere (darunter Bären und Karibus) zuständig sowie für die Herstellung der dazu benötigten Werkzeuge. Die Aufgaben der Inuit-Frauen bestanden im Teilen des Fleisches, Kochen, der Hautaufbereitung (für Kleidung und zum Bootsbau) und dem Sammeln von Pflanzen. Heute hat die Waljagd keine substanzielle Bedeutung mehr, sondern stark symbolischen Charakter, der Männlichkeit und soziales Prestige verleiht. Bei den Tuareg sind die Frauen Managerinnen des Haushalts, kümmern sich um die Kleintierherden, versorgen die Kinder und sind für das Melken und die Käse- und Butterherstellung verantwortlich. Die Männer sorgten sich traditionell um die Dromedare, organisierten den Verkauf der Tiere und waren im Karawanenhandel tätig. Heute spielen Zusatzstrategien wie Tourismus, Kleinhandel, Schmuggel und Arbeitsmigration eine große Rolle. Bei beiden Gruppen bewegen sich die Männer in einem größeren Radius, während die Frauen in der Nähe der Behausungen wirtschaften. Das heißt aber nicht, dass ihre Gesellschaften auf einem Konzept von Gender-Hierarchie aufgebaut sind. Die Inuit kennen das binäre Modell nicht; bei ihnen gibt es zum Beispiel keinen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Namen. Zudem existiert ein sogenanntes drittes soziales Geschlecht, das mit schamanischen Traditionen zusammenhängt und besagt, dass die Identität einer verstorbenen Person auf ein Neugeborenes übergehen kann. Wenn das biologische Geschlecht nicht übereinstimmt, dann tragen die Kinder bis zu ihrer Pubertät sowohl Mädchen- als auch Jungenkleidung. Beginnend mit der Pubertät müssen sie zwar ihr biologisches Geschlecht annehmen, erhalten aber oft durch schamanische Praktiken weiterhin Kontakt zu ihrem anderen Geschlecht aufrecht. Auch bei den Tuareg gibt es keine Hierarchie des sozialen Geschlechtes. Dies lässt sich aus der nomadischen Tradition erklären, in der Frauen und Männer gleichermaßen gefordert sind, um das Überleben zu garantieren. Die muslimischen Tuareg praktizieren die strengen dogmatischen Auflagen, wie zum Beispiel die Geschlechtersegregation, nicht, und Frauen werden traditionell auch nicht nach den muslimischen Kriterien von (sexueller) Schamhaftigkeit und Reinheit beurteilt. Dies hat sich durch vermehrte konservative Strömungen in einigen Regionen verändert. Frauen der Tuareg haben traditionell eine hohe soziale Stellung inne. Sie gelten als Sockel der Gesellschaft, deren Entscheidungen die Männer ausführen. Die Attraktivität von Frauen beschränkt sich nicht rein auf ihre äußere Schönheit – helle Haut, langes Haar –, sondern ihr Charme, ihr Wissen, ihre Autorität, ihr weithin bekannter Name bestimmen ihren Ruf.
Sehen wir uns Aspekte des mobilen Wohnens an, so finden wir – historisch gesehen – ebenfalls Ähnlichkeiten. Die meisten Inuit lebten als Kernfamilien mit Gruppen von Verwandten in räumlicher Nähe zueinander: im Winter in festen Behausungen, die je nach Region und verfügbarem Material aus Stein, Grassoden oder Walknochen bestehen, und im Sommer in mobilen Zelten aus Walknochenstangen und Tierhaut. Die typischen Schneeblockhäuser, Iglus, waren eine spezielle Form der Wintersiedlung und kamen nur in der zentralen kanadischen Arktis vor. In Grönland wurden auch Langhäuser errichtet, in denen bis zu acht Kernfamilien ihren Alltag teilten. Auch die Tuareg lebten in der Regel als Kernfamilien zusammen und bewegten sich gemeinsam mit verwandten Familien zwischen Sommer- und Winterplätzen in Zelten, die je nach Region heute noch aus Strohmatten, Leder oder alten, zusammengenähten Kleidungsstücken oder Leinenplanen gefertigt werden. Das Zelt war und ist der zentrale Lebensraum der Tuareg-Frauen. Es ist in ihrem Besitz, hat großen materiellen Wert und steht für die Selbstständigkeit der weiblichen Sphäre. Im Falle einer Scheidung muss der Mann ausziehen. Seit den Dürren im Sahel in den 1980er-Jahren sind viele Tuareg verarmt und mussten sich im urbanen Umfeld ansiedeln. Das Zelt wird dabei vielfach bis heute in die Häuser integriert und dabei oft in den Innenhöfen der Häuser als Schatten spendender Arbeits- und Ruheplatz oder als Gästeunterkunft verwendet.
Das traditionelle Wirtschaften ist in den letzten Jahrzehnten für die Inuit und die Tuareg zunehmend schwieriger geworden. Die Militarisierung der Arktis begann während des Zweiten Weltkriegs und wurde im Kalten Krieg verstärkt. 1952 wurde auf Grönland die US-Air-Base Thule errichtet, und entlang der Küste von Alaska über Kanada bis nach Grönland wurden Radaranlagen mit einem Frühwarnsystem installiert, um vor Angriffen (sowjetischer) Interkontinentalraketen zu warnen. Dabei wurde die Arktis zu einer militärischen Festung ausgebaut. Die Militarisierung der Sahara ist Teil einer US-Strategie mit dem Namen »Krieg gegen den Terror« und begann 2001 mit verschiedenen Counter-Terrorism-Missionen, um George Bushs Theorie der afghanisch-saharischen Vernetzung von islamistischen Dschihadisten Rechnung zu tragen. Die Militarisierung mündete 2008 in die Errichtung von ÁFRICOM, dem Oberkommando der US-amerikanischen Militäroperationen mit dem vordergründigen Ziel des Trainings lokaler Militärs zur Kriegsprävention. Die Militarisierung dient jedoch der Sicherung von Rohstoffen und der Erhaltung oder Ausdehnung von Macht. Durch den globalen Temperaturanstieg, der sich nirgends auf der Welt so rasant vollzieht wie in der Arktis, entwickelte sich der Zirkumpolarraum zu einer Zone gesteigerter Interessen: Die Eisfläche verringert sich immer schneller und eröffnet damit die Möglichkeit der Erschließung der verbleibenden Ressourcen an Erdöl und Erdgas nördlich des Polarkreises. Zudem gibt es die Perspektive, das ganze Jahr über die Nordwest- und Nordostpassage benutzen zu können, was den Warentransport enorm beschleunigt und die Erschließung neuer Fischgründe möglich macht. Daher zeichnet sich nicht nur unter den Anrainerstaaten (Russland und NATO-Länder) ein neuer Kalter Krieg ab, sondern auch weit entferne Länder treten in Konkurrenz zueinander. China erwirbt bereits Ländereien auf Island, und Staaten wie Indien oder Japan versuchen, in der Arktis Fuß zu fassen. Die Nutzbarmachung verbleibender Ressourcen an Öl, Gas, Phosphaten und Uran spielt auch in der Sahara eine Rolle. Ihre Exploration hat einen neuen kolonialen Wettlauf eingeläutet, in dem eine Militärpräsenz den Vorteil bietet, die neuen Fördergebiete gegenüber Wirtschaftskontrahenten (China) abzusichern. Während die USA an den Öl- und Gasreserven interessiert sind, braucht Frankreich das in Niger (und Mali) vorhandene Uran, um den Energiehunger seines Landes zu stillen. Der französische Atomenergiekonzern AREVA exploriert seit über 40 Jahren in Niger ohne Umweltauflagen, ohne soziale Absicherungen und ohne Steuern und Zölle an das Land zu bezahlen. Eine dritte Mine steht vor der Eröffnung, und auch China und Kanada beginnen in Kürze mit der Exploration. Für die dort lebenden Peul- und Tuareg-Nomaden, deren Wirtschaft nach wie vor auf der Weidetierhaltung riesiger Herden basiert, wird kein Platz bleiben, wenn alle Firmen ihre Minen mit Stacheldraht und durch die Einrichtung von Sicherheitszonen hermetisch abriegeln, um sich vor Übergriffen von Banditen, Rebellen und Dschihadisten zu schützen.
Dieses Beispiel verdeutlicht die Probleme der Lokalbevölkerung; nicht nur in der Sahara, sondern auch in der Arktis. Traditionelles Wirtschaften wird zunehmend schwieriger, und neue Perspektiven tun sich wohl auch in näherer Zukunft kaum auf. Die Tuareg operierten in den 1990er-Jahren und zu Beginn der 2000er-Jahre sehr erfolgreich im Wüstentourismus, der durch die Erstarkung salafistischer Dschihadisten jedoch unterbunden wurde, und ökonomische Nischen wie der transnationale Kleinhandel werden durch die Anwesenheit europäischer und amerikanischer Militärs immer schwieriger. Die Inuit sehen sich mit hoher Arbeitslosigkeit, desillusionierten Jugendlichen und dem verbreiteten Missbrauch von Alkohol konfrontiert. Für wenige ist Arbeit im internationalen Jagdtourismus, im Kunsthandwerksgewerbe oder im Umfeld neuer, durch den Klimawandel bedingter wissenschaftlicher Forschungsstationen eine Option geworden. Sowohl die Inuit als auch die Tuareg sehen sich vor große Veränderungen gestellt, die nicht nur den Wandel ihrer traditionellen Lebensweisen beschleunigten, sondern ihre gesamte Region in einen Spielplatz neokolonialer und imperialer Herrschaft verwandelt haben. Die Verhandlung indigener Rechte wird auch in Zukunft eine große Herausforderung bleiben.
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