Von Ulrich Wernery
Im Laufe langer Zeiträume hat das Kamel wie kein anderes Säugetier eine Fülle außerordentlicher physiologischer und morphologischer Anpassungen an seinen extremen Lebensraum entwickelt und ist für die Wüstenbewohner zum wichtigsten domizierten Tier geworden.
Das Kamel stellt nicht nur Milch, Fleisch und Wolle zur Verfügung, es sichert auch den Handel über tausende von Kilometern, und seine Resistenz gegenüber tödlichen Tierkrankheiten macht es unentbehrlich für die Wüstenstämme. Nicht verwunderlich ist es deshalb, dass die Beduinen das Kamel »Ata Allah« nennen: »Gottesgabe«.
Die Kamelidenfamilie gehört zur Ordnung »Artiodactyla« (Paarhufer) und zur Unterordnung »Tylopoda« (Schwielensohler). Kameliden besitzen zwei Zehen mit Nagel, und eines ihrer wichtigsten Erkennungsmerkmale ist die Struktur ihrer Füße. Sie haben keine Hufe, sondern bewegen sich auf Schwielen – Hautverdickungen, die aus Fett und elastischem Bindegewebe bestehen. Diese anatomische Besonderheit, die schützt und polstert, verhindert, dass die Tiere zu tief in den Sand einsinken und dass die Hitze des Sandes bis in die Beine dringt. Kameliden wirken eigentümlich hochbeinig, weil sie keine richtige Kniefalte besitzen. Die Kniescheibe ist unter der Haut sichtbar, wobei der Oberschenkel nicht in seiner ganzen Länge mit dem Rumpf verbunden ist. Kamele bewegen sich meist im Passgang, bei dem Vorder- und Hinterbeine gleichmäßig nach vorn und hinten bewegt werden, eine Bewegungsart, die am wenigsten Energie verbraucht.
Die ältesten Fossilienfunde von Kamelen stammen aus dem frühen Tertiär (50 bis 60 Millionen Jahre vor heute) aus Nordamerika. Nur hasengroß, verzweigten sie sich in acht Familien. Vor fünf Millionen Jahren existierten zwei Hauptzweige, die Camelinä und die Laminä. Zu dieser Zeit zogen die Camelinä über die Landbrücke, die heutige Behringstraße, nach Nordostasien. Von ihnen stammen die Altweltkamele ab. Sie verbreiteten sich weiter nach Westen, während des Pleistozän sogar bis nach Europa, Nord- und Ostafrika sowie Ostasien. Es gibt die beiden Spezies Dromedar (Camelus dromedarius)und Trampeltier (Camelus bactrianus).
Als die Altweltkamele nach Nordosten wanderten, zogen die Laminä nach Süden über die Panamalandbrücke und besiedelten die südamerikanischen Länder. Heute sind sie als Neuweltkamele, höckerlose Kamele oder südamerikanische Kameliden bekannt. Man unterscheidet vier verschiedene Spezies: Lama (Lama glama) und Alpaka (Lama pacos), beide zahm, Guanako (Lama guanacö) und Vikunja (Lama vicugna), beide wild.
In Nordamerika sind die Kamele vor 10.000 Jahren ausgestorben, wahrscheinlich aufgrund der intensiven Bejagung durch die Indianer. In Südamerika gibt es hingegen zwischen sieben und acht Millionen Neuweltkamele. Lamas und Guanakos sind seit 7.000 Jahren domestiziert, eine einzigartige Leistung der Indianer.
Alle Kameliden besitzen die gleiche Anzahl an Chromosomen (2 x 36 = 72 Autosome und ein Paar Sexchromosome). Sie sind phylogenetisch miteinander verwandt und können daher auch untereinander gekreuzt werden (Hybridisation). Berühmt sind die Kreuzungen zwischen Trampeltier (m) und Dromedar (w) – die Tulu –, die zwischen Dromedar (m) und Guanako (w) sowie Dromedar (m) und Lama (w). Kreuzungsprodukte zwischen Dromedar und Trampeltier sind größer und stärker als ihre Elterntiere. Es entstanden unzählige Hybriden; die Altweltkamelkreuzungen »Bertuar« und »Kospak« gelangten sowohl bei den Nomaden als auch bei der sesshaften Bevölkerung des ariden Südostens der ehemaligen Sowjetunion zu volkswirtschaftlicher Bedeutung.
DNA-Analysen haben ergeben, dass das Lama die domestizierte Art des wilden Guanakos ist und das Alpaka die domestizierte Form des wilden Vikunjas. Lebensraum der Vikunjas ist das Altiplano (3.700 bis 5.000 m). Vor der eisigen Kälte bewahrt es sein dichtes Fell, dessen Nutzung als natürliche Textilfaser es vor dem Aussterben bewahrt hat. In der extrem dünnen Luft hat sich im Laufe der Evolution das Herz des Vikunjas stark vergrößert, sodass das relative Gewicht fast 50 Prozent über der Norm gleichgroßer anderer Säugetiere liegt. Darüber hinaus besitzen die ovalen Erythrozyten der Neuweltkameliden eine sehr hohe Sauerstoffaffinität, das eine weitere äußerst wichtige Anpassung an das Leben in großen Höhen bedeutet. Selbst in der äußerst dünnen Andenatmosphäre in 4.500 m ü. NN ist der Blutfarbstoff (Hämoglobin) imstande, Sauerstoff effizient in den Lungen zu binden und in die Gewebe zu befördern.
Neueste osteologische Untersuchungen an Dromedar- und Trampeltierskeletten haben ergeben, dass es sich bei den Altweltkamelen um zwei verschiedene Arten handelt und nicht, wie lange Zeit angenommen, um eine Spezies. Während der Wildvorfahre des Trampeltiers durch die prähistorische Felskunst in Kasachstan und der Mongolei bestätigt zu sein scheint, stammt das Dromedar neuesten Forschungen zufolge wahrscheinlich vom Thomasschen Riesenkamel (Camelus thomasi, benannt nach dem französischen Paläontologen Thomas) ab, das während der letzten Eiszeit in Nordafrika und der Negevwüste zu Hause war und dann ausstarb.
Gegenwärtig existieren 20 Millionen Altweltkamele, davon sind zwei Millionen Trampeltiere. Alle vorkommenden Dromedare sind domestiziert. In der Wüste Gobi sowie in Chinas westlichster Provinz Sinkiang gibt es noch ungefähr 600 bis 800 wilde Trampeltiere, die vom Aussterben bedroht sind. Diese Kamele sind kleiner und schlanker als die Haustierform, besitzen zwei kleine spitze Höcker und leben ausschließlich von Salzwasser. In Sinkiang sind sie seit mehreren Jahren im Reservat »Arjin Shan Lop Nature Reserve« unter Schutz gestellt, das so groß ist wie Polen.
Altweltkamele wurden immer wieder exportiert. Vor 100 Jahren wurden Dromedare nach Australien gebracht und als Last- und Arbeitstiere eingesetzt. Auch ins südliche Afrika (Namibia), nach Europa und Nordamerika wurden Dromedare eingeführt.
Mit dem Aufkommen des Lastwagens überließ man die Dromedare der Wildnis des australischen Outbacks, wo sie heute zum Ärgernis der Rinderfarmer ein »verwildertes« Dasein führen.
Kamele sind Tiere der baumarmen, ariden Zonen. Ihre Nahrung besteht aus der harten, trockenen Steppenflora. Neben dem spärlichen, nur in der feuchteren Jahreszeit zur Verfügung stehenden Steppengras fressen sie Binsen, Rinde, Kraut- und Stachelpflanzen. Dabei ist erstaunlich, wie die Tiere mit den langen Stacheln der Akazien fertig werden, offensichtlich bevorzugen sie gerade solche Zweige. Oftmals müssen Kamelbesitzer ihre mattenverhängten Hütten vor dem Appetit der Kamele schützen, die – unbeaufsichtigt – Flechtkörbe und Palmenzäune verzehren. Im Gegensatz zu Schaf und Ziege verüben die Kameliden keinen Kahlfraß und erhalten ihren Lebensraum. Sie sind echte Äser (browser) und hervorragende Futterverwerter. Mit ihren langen Wimpern und Haaren rund um das Maul bestäuben sie außerdem Büsche, Graß und Bäume.
Die vielseitige Verwendung der Kameliden durch den Menschen hat verschiedene Rassen hervorgebracht. Die Araber unterscheiden zum Beispiel rund 20 Dromedarrassen, die in ihrem Wert und ihrer Nutzbarkeit ungemein unterschiedlich sind. Die plumpen, niedriger und klobiger gebauten Formen stellen die eigentlichen Lasttiere dar; die schlanken, leichter gebauten, eleganten und hochbeinigen Geschöpfe sind ideale Reittiere. Sie allein meistern die großen Wüstendurchquerungen. Besonders schnelle und wendige Dromedare sind die Meharis, Edeldromedare, durchaus vergleichbar mit edelsten Rennpferden und fähig, Tagesdistanzen von 110 bis 120 Kilometer am Tag mühelos zu bewältigen. In den Legenden der Nomaden werden die Leichtfüßigkeit und Durstfähigkeit der sudanesischen Bischarins gepriesen. Die Schnelligkeit der Rennkamele auf der arabischen Halbinsel ist ihren Besitzern inzwischen mehrere Millionen US Dollar wert.
Viele Irrtümer kreisen um den Wasserhaushalt der Kamele: Höcker und Magensystem speichern angeblich geheimnisvolle Wasservorräte. Richtig ist vielmehr: Auch Kamele können kein Wasser bevorraten, besitzen aber wie kein anderes Lebewesen wirksame Mechanismen, Körperflüssigkeiten nicht durch Transpiration und über die Ausscheidung von Kot und Urin abzugeben, sondern im Organismus zurückzuhalten.
Energiespeicher für schlechtere Zeiten sind die Höcker, die hauptsächlich aus Fett bestehen, das bei Futtermittelknappheit umgewandelt wird. Geschrumpfte Höcker stellen ein Indiz für einen schlechten Ernährungszustand dar.
In der Regenzeit können Kamele ihren gesamten Flüssigkeitsbedarf über den Wasserhaushalt der aufgenommenen Grünpflanzen decken und monatelang ohne Frischwasser überleben. Sie überstehen extreme Durststrecken und kommen drei Wochen ohne Wasser aus. Kamele ertragen einen Wasserverlust von 40 Prozent, ohne Schaden zu nehmen. Den Wasserverlust gleichen Kamele durch einmaliges Trinken in kürzester Zeit voll aus. So wird berichtet, dass Kamele in 15 Minuten 200 Liter Wasser aufnehmen können. Bei jedem anderen Säugetier käme es zu einer Wasserintoxikation, welche die roten Blutkörperchen zum Platzen bringt, was den Tod nach sich zöge.
Eine weitere Besonderheit ist das Vermögen des Kamels, die aufgenommene große Flüssigkeitsmenge innerhalb kürzester Zeit zu absorbieren und damit die ausgetrockneten Körperzellen wieder aufzufüllen. Entscheidend hierfür ist das Kompartment 1 (entspricht dem Pansen; die drei Vormägen der Kameliden werden Kompartments bezeichnet), das in der Lage ist, große Mengen Flüssigkeit aufzunehmen, bevor sie in den Darm gelangen. Bei den echten Wiederkäuern ist das nicht möglich, da die Pansenschleimhaut aus Zotten besteht und nicht aus einer Drüsenschleimhaut.
Bei den meisten Säugetieren und beim Menschen wird das Wasser beim Transpirieren zu einem erheblichen Teil dem Blut, genauer dem Blutplasma, entzogen, das dadurch stark eindickt, beim Kamel dagegen hauptsächlich dem alimentären Trakt. Dadurch bleiben das Blut dünnflüssig und der Kreislauf funktionstüchtig. Um Flüssigkeitsverluste durch Transpirieren gering zu halten, können dehydrierte Kamele die Temperatur ihres Bluts der Außentemperatur angleichen. Zur Stabilisierung der Körpertemperatur auf 37o C benutzen fast alle Säugetiere und der Mensch die bei der Verdunstung des Schweißes entstehende Verdunstungskälte. Beim dehydrierten Kamel beginnt der Kühlmechanismus jedoch erst bei einer Temperatur von 40 bis 42o C zu wirken, was Flüssigkeit und Energie spart. Zusätzlich kann das Kamel seine Körpertemperatur bis auf 34o C absenken, in kühleren Nächten somit Wärme abgeben, einen »Kältevorrat« für den nächsten heißen Tag anlegen und zusätzlich Energie sparen. Wie kein anderes Säugetier besitzt das Kamel also eine Körpertemperaturschwankungsbreite von 6 bis 8o C.
Die hohe Körpertemperatur würde auch beim Kamel auf die Dauer lebensbedrohliche Folgen nach sich ziehen, insbesondere die Gehirnzellen und die Retina der Augen wären gefährdet. Doch auch hier hat es die Natur speziell ausgerüstet und in seiner langen Nase einen außerordentlichen Kühlmechanismus eingebaut. Untersuchungen, die der norwegische Physiologe Schmidt-Nielsen in Kenia durchführte, ergaben, dass Kamele heiße Wüstenluft einatmen, welche die Nasenschleimhaut austrocknet. Große Flächen der Nasenbeläge werden dadurch hygroskopisch. Während des Ausatmens streicht wasserdampfgefüllte Luft von den Lungen über diese trockenen Oberflächen, die das Wasser absorbieren, und die Ausatmungsluft, normalerweise wasserdampfgeschwängert, ist trocken. Das von der Nasenoberfläche aufgenommene Wasser kühlt nun ein Geflecht von Gefäßen, das Halsschlagadergeflecht (carotid rete), welches sich in der Nähe der langen Nasenmuscheln befindet. Das in diesem Geflecht gekühlte Blut reduziert wiederum die Temperatur des Bluts der parallel verlaufenden Halsvene (Jugularisvene), deren Blut von der Nase zum Herzen fließt. Während dieses venösen Rückflusses wird das heiße arterielle Blut, vom Herzen kommend, das die hitzeempfindlichen Gehirn- und Augenzellen versorgt, vom Halsvenenblut gekühlt (counter-current). Dieser einzigartige, einfache Kühlmechanismus schützt die gefährdeten Zellen vor Überhitzung. Gehirn und Augen sind um 4 bis 6o C kühler als der Gesamtorganismus.
Des Weiteren haben Kameliden die Fähigkeit, Flüssigkeit über die Exkremente zu konservieren. Kühe verlieren beispielsweise über den Kot 20 bis 40 Liter Flüssigkeit pro Tag, Dromedare hingegen nur 1,3 Liter. Kamele setzen kleine, trockene Kotballen ab, weil im Enddarm besondere Zellen dem Kot Flüssigkeit entziehen. Wichtig für den Wasserhaushalt sind auch die Funktion und Struktur der Kamelnieren. Die Henlischen Schleifen der Niere sind vier- bis sechsmal länger als die des Rindes, wodurch sowohl der Urin konzentriert als auch der Urinfluss verlangsamt wird. Dehydrierte Kamele setzen Urin nur in Tropfen ab, sichtbar an den weißen Kristallstreifen an Schwanz und Beinen. Der Urin ist stark eingedickt. Die Art ihrer Nieren ist auch der Grund dafür, dass Kamele Meerwasser (NaCl-Gehalt über drei Prozent) aufnehmen und sich von salzhaltigen Pflanzen ernähren können, was das Überleben der Wildtrampeltiere in China ermöglicht.
Das Kamel liefert Fleisch, Milch, Wolle und Dung als Brennmaterial, für die Entwicklungsländer ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. In Somalia und Sudan leben Millionen Nomaden von Kamelmilch, die einen unschätzbaren Nährwert und oft die wichtigste Vitamin-C-Quelle für die Menschen darstellt. Ihr Vitamin-C-Gehalt ist vier- bis sechsmal so hoch wie der von Kuhmilch, und auch die Milchleistung von 10 bis 20 Litern pro Tag und Tier macht das Kamel zum wichtigsten Begleiter der Wüstenbewohner, deren Überleben in der Wüste seit ewigen Zeiten von der Fähigkeit des »Wüstenschiffes« abhängig war, den harschen Bedingungen durch eine adaptierte Physiologie zu begegnen.
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