Der Weg zum Porträt

Porträtaufnahmen sind immer sogenannte gestellte Fotos, wobei ich diesen Begriff ablehne, denn »gestellt« klingt nach »unnatürlich«, »künstlich«. Richtig ist, dass Porträtfotos keine Schnappschüsse sind, es sind Bilder, für die ich das Einverständnis des Fotografierten einhole. Ich habe nie etwas davon gehalten, Menschen heimlich zu fotografieren, sie mit einem Tele oder aus einem Versteck heraus »abzuschießen«. Es gab früher im Fotozubehör sogar einen Winkelvorsatz für Objektive, mit dessen Hilfe man quasi um die Ecke fotografieren konnte, während man augenscheinlich in eine ganz andere Richtung schaute. Das war in meinen Augen entwürdigend, für den Fotografen und erst recht für das Motiv, und es ergab auch keine guten Bilder.

Für gute Porträtaufnahmen muss zwischen mir und der Person für die Zeit des Fotografierens eine Verbindung bestehen. Das muss vorbereitet werden. Ich kann nicht einfach aus dem Auto springen, auf einen wildfremden Menschen zugehen und sagen, ich mach jetzt ein Bild von Ihnen. Ich muss zuerst Vertrauen herstellen und vor allem eine entspannte Situation schaffen. Dazu muss zumindest ein kurzes Gespräch stattgefunden haben, nichts Tiefgründiges; vielleicht ist die Person eine Händlerin, der ich zuerst eine Kleinigkeit abkaufe, oder der Besitzer der Werkstatt, in der ich gerade mein Motorrad repariert habe, oder eine alte Mongolin, die ich vor ihrer Jurte antreffe und mit der ich über das Allerweltsthema Wetter rede. Daher ist es in Ländern, deren Sprache ich nicht spreche und wo ich davon ausgehen muss, dass die Einheimischen weder Englisch noch Französisch können, hilfreich, wenn ich einen einheimischen Fahrer habe, der dolmetschen kann, oder einen zusätzlichen Übersetzer.

Ist die erste Hürde genommen, kann ich mich als Fotograf einführen und fragen, ob ich eine Porträtaufnahme machen darf. Es kostete mich jahrelange Übung und fällt mir bis heute nicht leicht, um ein Porträt zu bitten, denn auch wenn man mir das auf der Bühne nicht anmerkt, wo ich problemlos vor tausend Menschen rede, bin ich im Grunde ein schüchterner, zurückhaltender Mensch. Ab und zu handle ich mir mit der Bitte nach einer Porträtaufnahme einen Korb ein, dann insistiere ich nicht, in den meisten Fällen jedoch willigen die Menschen ein.

Dann knie ich zum Beispiel vor der alten Mongolin, die mittlerweile auf ihrem Bett in der Jurte sitzt. Ich hole ein Kameragehäuse aus dem Kamerarucksack – darum, ob der richtige Film in der Kamera ist und noch genügend Bilder darauf sind, brauche ich mich in Zeiten der Digitalfotografie zum Glück nicht mehr zu kümmern –, muss mich entscheiden, ob ich ein Zoomobjektiv nehme, mit dem ich zwar den Ausschnitt variieren kann, aufgrund der maximal möglichen Blende von 2,8 die Frau aber nicht gut freigestellt bekomme. »Freistellen« bedeutet, dass das Gesicht und vielleicht noch der Oberkörper scharf sind, während der Hintergrund verschwimmt. Oder ob ich ein Standardzoom verwende und, falls ja, ob eines, mit dem ich auch das Bett mit aufs Bild bekomme und dann, mit einem Dreh am Zoomring, nur den Kopf der Frau erfassen kann. Als Nächstes mache ich einige Voreinstellungen, zum Beispiel Belichtungszeit, denn solange bleibt die Frau entspannt. Während dieser Zeit unterhalte ich mich weiter mit ihr, frage sie zum Beispiel, wie viele Kinder und Enkelkinder sie hat. Erst dann setze ich die Kamera ans Auge.

Interessanterweise lächeln Menschen außerhalb Europas nur selten, wenn sie porträtiert werden, ganz im Unterschied zu uns, wo ein jeder sofort ein Kameralächeln aufsetzt. In vielen anderen Kulturen ist ein Porträtfoto eine ernste Sache. Und das gestehe ich den Menschen auch zu. Der Spruch, dass ein Bild mehr über den Charakter des Fotografen erzählt als über den Fotografierten, ist durchaus richtig. Es kommt auf mich als Fotografen an, darauf, dass ich die Menschen, die ich fotografiere, respektiere, dass ich ihnen ihre Würde lasse, aber auch darauf, dass ich sie richtig »erfasse«, dass ich zum Beispiel einen einfachen Hirten oder einen Stammeshäuptling auch als solche zeige und nichts hineininterpretiere oder weglasse.

Erst jetzt drücke ich ab. Ein, zwei Mal, zwischendurch werfe ich einen Blick auf den Monitor, zoome auf dem Bildschirm in das Bild hinein, um zu prüfen, ob die Schärfe passt und ob der Fotografierte nicht gerade blinzelte, drücke vielleicht ein drittes und selten ein viertes Mal den Auslöser, weil bei Porträts der Gesichtsausdruck von Bild zu Bild oft recht unterschiedlich ist, sei es wegen des Lidschlags oder der Mimik, und weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass sich der Porträtierte oft entspannt, wenn er denkt, die Fotosession sei vorbei. Aber ich stelle bei Porträts nie auf Serie. Es ist für die Fotografierten angenehmer, wenige Male klick zu hören als zwölf Klicks die Sekunde. Manchmal unterbreche ich kurz und stelle wieder Augenkontakt her oder sage: Sie haben ein schönes Lächeln, und gebe dadurch positive Rückmeldung auf die Bilder. Wenn ich selbst für Pressefotos porträtiert werde, merke ich, dass das mir als Motiv guttut. Ab und zu bitte ich auch um etwas, zum Beispiel, den Kopf ein klein wenig zu drehen oder ein bisschen in eine andere Richtung zu schauen.

Drei meiner Porträtaufnahmen sind mir bis heute in besonderer Erinnerung. Ich wollte immer einen Targi mit indigoblauem Cheich und leuchtenden Augen fotografieren, so wie auf dem berühmten Foto von Pascal Maître, mit dem GEO jahrelang Werbung machte, fand aber nie einen so besonderen. Pascal Maîtres Motiv war aber auch fast zu schön, um wahr zu sein, weshalb ich immer den Verdacht hatte, dass bei dem Bild ein bisschen nachgeholfen wurde. Irgendwann, irgendwo in Mali traf ich am Pistenrand auf einen fotogenen Targi, nicht so schön in herkömmlichem Sinn wie der von Pascal Maître, aber mit einem sehr markanten, ausdrucksvollen Gesicht. Ich war damals noch nicht sonderlich geübt und geschickt darin, um eine Porträtaufnahme zu bitten, und überlegte noch, wie ich meine Bitte wohl am besten vorbringen könnte, als ich bemerkte, dass der Mann immer wieder begehrliche Blicke auf einen leeren Benzinkanister warf, den ich mitführte. Also bot ich ihm den Kanister im Gegenzug für ein Foto an – und erhielt endlich meine lang ersehnte Porträtaufnahme eines Targi, ein Bild, das mich bis heute mit Freude und Stolz erfüllt.

Ohne das Einverständnis des Mannes hätte ich diese Nahaufnahme nie machen können. In den folgenden Jahren wurde ich immer geübter darin, auf Menschen zuzugehen und vorsichtig Kontakt aufzubauen, bevor ich an das Fotografieren auch nur dachte. Da ich damals sehr häufig in dieselben Gebiete der Sahara zurückkehrte, das Aïr-Gebirge und die Ténéré im Niger oder an den Fluss Niger in Mali, lernte ich nach und nach mehr Tuareg und ihre Familien kennen. Gern nahm ich ihre Einladungen in ihre Mattenzelte oder in ihre Lehmhäuser an, denn viele der Nomaden waren bereits sesshaft geworden. Von dort wurde ich oft an andere Familien im weiteren Verwandtenkreis weitergereicht. In der Familie erst einmal eingeführt, war es viel leichter, die Familienmitglieder im Zelt, das Familienoberhaupt bei der Teezeremonie oder – meine zweite besondere Porträtaufnahme – einen Jungen beim Besuch der Koranschule zu fotografieren.

Das dritte meiner Lieblingsporträts zeigt drei Jungen in einer Guelta, einer natürlichen Wasserstelle in der Sahara. Sie hatten mich bei vierzig Grad im (nicht vorhandenen) Schatten mit dem Lockruf »Piscine! Piscine!« von einer Autoreparatur weggelockt und zu ihrem »Schwimmbad« geführt. Kinder zu fotografieren ist einfach, spielerisch und geschieht in der Regel aus der Situation heraus, dennoch ist die Aufnahme bis heute eines meiner Lieblingsbilder.

In meinen Anfangsjahren als Fotograf war es für mich absolut tabu, Frauen zu fotografieren. Heimlich wollte ich es nicht tun, und sie zu fragen traute ich mich nicht. Erst in den 1990er-Jahren konnte ich meine ersten Porträtaufnahmen von Frauen machen, aber auch nur, weil ich jemanden an meiner Seite hatte, der mir Zugang zu ihnen verschaffte: meine kleine Tochter Gina oder meine Reisepartnerin. Dazu kam, dass ich herausfand, dass die Frauen großes Interesse an Fotos von sich hatten. Das war nur zu verständlich, denn sie besaßen oft kein einziges Bild von sich selbst. Also nahm ich eine Instantkamera mit auf meine Reisen und bot den Frauen ein Sofortbild im Gegenzug für meine Aufnahmen an. Das führte allerdings dazu, dass auch die Schwester und die Mutter und die Cousine ein Bild von sich haben wollten, und natürlich auch der Vater und der Onkel und, und, und. Allein die Tatsache, dass ein Sofortbildfilm nur zehn Bilder hatte, rettete mich. Wichtig war, dass ich erst mit meiner »richtigen« Kamera fotografierte und dann mit der Polaroid, sonst hätten die Frauen nur noch fasziniert beobachtet, wie sich ihr Konterfei langsam herausbildete – und mich und meine Kamera keines Blickes mehr gewürdigt.

Nicht nur bei Frauen, generell war lange Zeit ein Polaroidbild die beste Währung, die man als Fotograf weltweit anbieten konnte, weil die Menschen eben kein Bild von sich hatten, zumindest kein aktuelles, und da war ich als rollendes Fotostudio, das in der Lage war, Bilder sofort und kostenfrei anzubieten, hoch attraktiv. Heutzutage kann ich damit niemanden mehr locken. Als ich 2018 noch einmal eine Polaroidkamera in die Mongolei mitnahm, holten die Leute ihr Smartphone heraus und zeigten mir die Bilder, die sie selbst gemacht hatten. Allerdings wollen manche trotzdem gern meine Aufnahmen bekommen, und das ist ja mit der heutigen Technik kein Problem. Dann schicke ich sie ihnen per Bluetooth, WhatsApp oder wie auch immer.

Begegne ich einem Einzelnen und möchte ihn fotografieren, bitte ich direkt diese Person um Erlaubnis, bei Gruppen hole ich mir vom jeweiligen »Oberhaupt« das generelle Einverständnis ein, fotografieren zu dürfen. Das kann der Familienvorstand sein, bei Kirchgängern, die nach dem Gottesdienst noch zusammenstehen, der Pfarrer, bei Schülern auf dem Pausenhof der Lehrer ... So kann ich mehrere Porträts machen, Ganzkörperbilder, im Fall beispielsweise einer Familie die ganze Familie fotografieren, die Jurte, die Tiere.

Mit barer Münze bedankte ich mich schon früher höchst selten, heute nie. Wenn ich in einer Werkstatt bereits für eine Reifenreparatur oder in einer Kneipe fürs Mittagessen bezahlt habe und den Mechaniker oder den Wirt fotografieren möchte, gebe ich ein besseres Trinkgeld. Und wenn es keinen solchen Anlass gibt, zeige ich mich mit kleinen Geschenken erkenntlich, einer Schachtel Zigaretten, oder vielleicht auch mal nur einer Zigarette, mit Grundnahrungsmitteln wie Mehl oder Zucker, oder mit anderen Dingen, die in den abgelegenen Gebieten, in denen ich vorwiegend unterwegs bin, immer willkommen sind, wie Petroleum oder Taschenlampenbatterien. All diese Sachen kaufe ich in kleinen Geschäften im Land, weil ich so den Läden Umsatz bringe und die Leute die Produkte kennen. Mit Tütensuppen von Knorr oder Maggi beispielsweise wüssten sie gar nichts anzufangen. Und ich schenke den Kindern keine Luftballons oder Süßigkeiten aus Deutschland, womit ich nur Erwartungen wecken würde. Auch mache ich kein Aufheben darum, sondern lege meine Dankesgabe zum Beispiel neben einen Zeltpfosten.

Ein anderes Thema ist das Recht am eigenen Bild. Wenn ich das Foto einer Person veröffentlichen will, brauche ich theoretisch nach westlichem Rechtsverständnis ihre schriftliche Genehmigung, ein Model Release. Im Übrigen bräuchte man eine solche Erlaubnis auch für ein Foto von fremdem Eigentum (Property Release), sei es eine Privatvilla, eine Schule, ein Museum oder der Löwe in einem Zoo – theoretisch, denn es gilt der alte Spruch: Wo kein Kläger, da kein Richter, und mir ist kein Fall bekannt, wo ein Reisefotograf deswegen Ärger bekommen hätte. Eigentlich müsste ich mir aber von jeder Person, die ich bei meinen Reisen fotografiere, ob in Niger, Peru oder Afghanistan, ein Model Release unterschreiben lassen. Das Problem ist, dass viele meiner Motive weder lesen noch schreiben können und dass ein solches Formular nur Misstrauen hervorrufen würde. Also verzichte ich darauf.

Allerdings muss ich gestehen, dass ich mangels offizieller Fotografiererlaubnis manche Bilder nicht in einem Buch oder einer Zeitschrift zeige, so zum Beispiel die Fotos von schnüffelnden Kindern, die ich in Communities, Elendssiedlungen der Aborigines, aufgenommen habe. Bei der Bildauswahl für das Buch Die Wüsten der Erde habe ich sie weggelassen, da in Communities nur mit einer Sondergenehmigung fotografiert werden darf – die ich nicht hatte –, denn die Zustände passen so gar nicht in das von der australischen Regierung so gern gezeichnete Bild eines Miteinanders der Kulturen. In Vorträgen zeige ich die Fotos jedoch, denn sie sind nun mal Teil der Realität, aber da kann ich sie jederzeit herausnehmen, wenn australische Behörden Ärger machen sollten. Bei Büchern ist das schlecht möglich, da müsste unter Umständen die gesamte Auflage eingestampft werden.