Die Suche nach Motiven
Mein Leben als Fotograf ist im Grunde eine einzige lange Suche nach Motiven. Während meiner Reisen wandern meine Augen ständig durch die Landschaft, ob vielleicht eine Karawane auf mich zu zieht, ob ich eine Robbe auf einer Eisscholle entdecke oder das Wetter für eine besondere Lichtstimmung sorgt. Das erfordert sehr viel Aufmerksamkeit und Konzentration, weshalb ich nie Urlaub in Gebieten mache, die für meine beruflichen Interessen und meine Projekte relevant sind, denn dann würde ich ständig nur Ausschau nach Motiven halten. Ich nehme dann nicht einmal eine Kamera mit, sondern fotografiere mit dem Handy, so, wie ich auch meine Familie, meine Kinder, meine Enkelinnen gern mit meinem Smartphone fotografiere – und die Bilder sind dann nicht viel besser als von jedem Hobbyfotografen. Ich trenne also ganz klar zwischen privater und beruflicher Fotografie, vermutlich eine Art Selbstschutz, denn sonst könnte ich nie abschalten.
Dank meiner langen Berufserfahrung kann ich sehr schnell zwischen interessanten und uninteressanten Motiven unterscheiden. Dennoch besteht immer die Gefahr, die falsche Entscheidung zu treffen, dass ich zum Beispiel an einer schönen Jurte vorbeifahre, in der Hoffnung, dass noch eine ebenso schöne kommt, vor der aber mehr Ziegen stehen. Und wenn ich Pech habe, stehen vor der nächsten Jurte weniger Ziegen statt mehr – oder sehr viele, dafür ist die Jurte mit Plastikplanen statt mit Filzbahnen abgedeckt. Im Lauf der Jahre entwickelte ich jedoch eine recht gute Intuition und kehre daher auch mal nach ein paar Minuten um, um doch die erste Jurte zu fotografieren. Dieses Gespür ist vor allem in Regionen wertvoll, die ich das erste Mal bereise, so dass ich nicht weiß, was mich noch erwartet. Ein einheimischer Fahrer oder ein Guide ist mir da keine Hilfe, denn er kann nicht wissen, worauf genau ich Wert lege.
Im Lauf der Jahrzehnte bin ich naturgemäß anspruchsvoller geworden. In den ersten Jahren fotografierte ich trotz teurer Filme letztendlich viel zu viel, weil für mich alles neu, alles exotisch war. Heute steige ich nicht mehr wegen jedem Kamel vom Motorrad oder aus dem Auto, weil ich schon so viele schöne Kamele im Archiv habe, sondern konzentriere mich gezielt auf Motive, die neu sind oder schlicht noch bessere Bilder versprechen. Heute weiß ich genau, welches spezielle Motiv mir fehlt und ich noch haben möchte. Das kann natürlich auch zu Frustration führen, weil man seltener fündig wird.
Mittlerweile gibt es oft Tage, an denen ich kein einziges Mal auf den Auslöser drücke, weil ich kein wirklich gutes Motiv finde, oder auch einfach nur, weil das Wetter nicht optimal ist. Bevor ich zum Selbstzweck oder aus Langeweile fotografiere, lasse ich es lieber bleiben, und bevor ich schlechte Bilder mache, mache ich lieber gar keine. Das hat zwei Seiten: Einerseits tut es den Bildern gut, dass ich anspruchsvoller geworden bin, andererseits bin ich abgebrüht und kann mich seltener begeistern, muss mich daher immer wieder selbst motivieren. Aber das hat man in jedem Beruf. Ein Bäcker wird nach zwanzig Jahren in der Backstube ebenfalls mit größerer Begeisterung ein neu kreiertes Teilchen backen als die Breze, die er schon seit seiner Lehrzeit fabriziert.
Der Enthusiasmus und die Neugier der Anfangsjahre hatten allerdings auch ihr Gutes. Heute verpasse ich auch mal die Gelegenheit für ein außergewöhnliches Bild, weil ich denke, ach, habe ich schon, und daher im Auto sitzen bleibe. Wenn sich die Situation dann zu einem besonderen Motiv entwickelt, ist es oft zu spät.
Zu Beginn einer Reise habe ich zwar eine ungefähre Vorstellung von den Motiven im Kopf, die ich fotografieren möchte, aber keine Liste, die ich dann Punkt für Punkt abhaken würde. Ich schaue mich um und lasse mich einfach von der Stadt, von der Landschaft, von Festen oder anderen Situationen inspirieren. Aber ob während der Fahrt oder bei einem Gang durch eine Ortschaft: Die Kamera ist immer dabei, im Fototankrucksack auf dem Motorrad, auf der Rückbank des Autos oder im Fotorucksack auf dem Rücken.
Um die Einheimischen, die ja immer potenzielle Motive sind, nicht zu verschrecken, fahre ich nie bis unmittelbar an ein Zelt oder eine Jurte heran, sondern stelle das Motorrad, das Auto, das Snowmobil oder welches Fahrzeug auch immer in einigem Abstand ab und nähere mich zu Fuß – und nehme natürlich gegebenenfalls Helm und Sonnenbrille ab, damit man mein Gesicht sehen kann. Ich schnappe mir auch nicht Stativ, Kameras, Riesenteleobjektiv, Drohne etc. und laufe behangen wie ein Christbaum los, sondern gehe erst einmal entweder ganz ohne alles oder, seltener, nur mit einer Kamera über der Schulter auf die Menschen zu und stelle erst einmal einen Kontakt her. Und frage dann irgendwann, sofern sich das Gespräch gut entwickelt, ob ich fotografieren darf.
Das heißt natürlich, dass ich zurücklaufen muss, um zu holen, was ich brauche: die Kamera, früher, als ich mit unterschiedlichen arbeitete, gegebenenfalls eine andere Kamera, das passende Objektiv, ein Stativ, was auch immer. Manchmal würde ich mir da einen Assistenten wünschen, den ich losschicken kann. Aber den kann ich mir nicht auch noch leisten, denn in vielen Regionen muss ich ohnehin schon einen Guide und/oder Dolmetscher engagieren. Solange ich die Sahara und die Wüsten Afrikas bereiste, kam ich ganz gut mit den ehemaligen »Kolonialsprachen«, den heutigen Verkehrssprachen Englisch und Französisch, über die Runden, doch je weiter ich meine Kreise zog, desto öfter stieß ich mit meinen Sprachkenntnissen an Grenzen.
Wenn etwas meine Aufmerksamkeit erregt, muss ich unterscheiden: Ist das Motiv jetzt schon da? Wenn ja, ist es vergänglich oder dauerhaft? Oder könnte etwas ein Motiv werden? Das Beste ist natürlich, wenn das Motiv schon da ist und auch bleibt. Nehmen wir eine schöne Sonnenblume oder eine ungewöhnliche Gesteinsformation – beide können nicht weglaufen. Dann kann ich mir Zeit lassen, das Motiv in Ruhe aus verschiedenen Blickwinkeln und Distanzen betrachten und gegebenenfalls auf bessere Lichtverhältnisse warten. Ist das Motiv schon da, aber vergänglich, etwa ein Vulkanausbruch oder Nordlichter, muss ich natürlich sofort reagieren.
Grundsätzlich sind auch Menschen und Tiere »vergängliche« Motive in dem Sinne, dass sie sich bewegen. Damit meine ich nicht nur, dass mein Motiv aufstehen und weggehen kann, sondern zum Beispiel auch, dass sich die Mimik verändert. Das bedeutet zugleich, dass sie je nach Situation auch erst ein Motiv werden können. Wenn ich in der Masai Mara oder der Serengeti einen Gepard sehe und in der Ferne eine Gazellenherde, kann es sich lohnen, zu warten, ob der Gepard sich entschließt, Jagd auf eine Gazelle zu machen. Kurz gesagt gilt es zu entscheiden: Muss ich schnell sein, kann ich mir Zeit lassen oder, und das ist für mich als ungeduldigen Menschen am härtesten, muss ich warten?